Samstag, 16. Juli 2016

Cloud Atlas


Mal wieder Zeit für eine Filmbesprechung. Oh, ich sehe, in dem Satz fehlt ein Prädikat. Muss ich mir wohl aus dem Film abgeguckt haben, der als eines von unzähligen Details eine Vielzahl unterschiedlicher Sprachstile anbietet, geschuldet dem halben Jahrtausend, über das verteilt die Ereignisse des Films geschehen.

Cloud Atlas (2012) ist ein Film von Tom Tykwer, Lana und Andy Wachowski. Ersteren Namen möge man im Kopf bitte mit Lola Rennt verknüpfen, einem Film, der jenseits des Teiches tatsächlich an Schulen regulär im Unterricht behandelt wird. Bei den Wachowskis möge sogleich die Lampe Matrix aufleuchten. All diese Namen beleuchten einen der wesentlichen Wesenszüge des Werks, das uns hier präsentiert wird: Die Verbundenheit aller Ereignisse, ob vergangen, gegenwärtig oder zukünftig, sowie die Auswirkung unseres Handelns auf eben jene Ereignisse. Es sind Filme, die vom "Karma" handeln, Filme, die uns suggerieren, dass wir selbst die Konstrukteure unserer vielfältigen Realitäten sind.

Bei all diesen Vorgedanken entsteht im Kopf die Erwartung eines Filmes, der sich keiner Chronologie beugt, keine Erwartungen bedient, sondern als Kunstwerk nur den Vorstellungen Tykwers und der Wachowskis unterworfen ist. Diesen Film schaut man sich nicht an, man erlebt ihn. Das Publikum wird zum Spielball, ohne sich hintergangen und mit Gewalt auf irgendwelche Aha-Effekte hingewendet zu fühlen. Bereits nach zwanzig Minuten des Films hat man das Gefühl, eine Unzahl an Ereignissen, Charakteren und Schicksalen kennengelernt zu haben - und dieser Film erstreckt sich im Gesamten über fast drei Stunden. Bei dieser Feststellung geht mir Thomas Pynchon durch den Kopf - postmodern, umfangreich, unkonventionell. Sollte es sich hierbei um einen Pynchonesken Film handeln?

Ich bin völlig unfähig, einen kohärenten Überblick über den Plot zu geben. Ich zitiere den Text der Bluray-Ausgabe:

"1849: Ein amerikanischer Anwalt auf hoher See, der die Schrecken des Sklavenhandels kennenlernt. 1936: Ein junger Komponist, mit dessen Hilfe ein alterndes Genie ewigen Ruhm erlangen könnte. 1973: Eine aufstrebende Journalistin, die eine Atom-Intrige enthüllt. 2012: Ein Verleger, der in einem Altersheim erkennt, was Freiheit bedeutet. 2144: Eine geklonte Kellnerin, die ihre Wirklichkeit verändert. 2346: Ein Sonderling, der sich in einer postapokalyptischen Welt mutig gegen übernatürliche Kräfte stellt."

Sechs grundverschiedene Geschichten, simultan miteinander verwoben, mit minimaler Exposition, überfallen mich als Zuschauer. Ich kann mich nur zurücklehnen und rezipieren. Verstehen kann ich erst nach einer langen Zeit aufmerksamen Zuschauens. Die Geschichten, die sich über ein halbes Jahrtausend erstrecken, mögen vollkommen unterschiedlich sein, und doch haben sie Eines gemeinsam: Sie handeln von Erkenntnis, davon, wie Erkenntnis die eigene Welt verändert und davon, wie wir selbst die Erschaffer unserer Realitäten sind.

Das klingt bekannt: In Tykwers Meisterwerk Lola Rennt (1998) erleben wir drei verschiedene Durchläufe ein und derselben Ereignissequenz und erfahren, wie kleinste Variationen im Durchlauf völlig unterschiedliche Ausgänge herbeiführen können. Auch in Cloud Atlas erleben wir noch vor der Sechzig-Minuten-Marke, wie vergangene Erkenntnisse die Zukunft wesentlich beeinflussen können. Tykwer spielt wieder mit Zeit, mit Raum, überschreitet mutwillig die Grenzen des Begreifbaren - dies ist sein Kunstwerk, er darf das. Er erschafft, zusammen mit den Wachowskis, eine Art Lola auf Steroiden. Lola v2.0.

Mit allen Möglichkeiten, die die Filmkunst in den vergangenen achtzehn Jahren hinzugewonnen hat: CGI, Makeup-Effekte, das alles wird völlig natürlich in das Geschehen eingebunden. Es sticht nicht als Selbstzweck heraus, hier schreit niemand "Schaut mal, was ich alles mit dem Computer machen kann!" - Die Macher haben sich vorgenommen, zwei Panoptika der Zukunft zu entwerfen und das gelingt ihnen überzeugend. Dabei geben sie Statements zum Konzept der Apokalypse ab, indem sie in der neuesten Ära auf der visuellen Ebene alles verknüpfen, was in den vorherigen Zeitaltern gewesen ist. Eine Art Steampunk für die übernächste Generation.

Kommen wir von dem Visuellen zum Sprachlichen. Der Film bietet genug Grundlage für eine wissenschaftliche Hausarbeit an der Universität. Ich habe lange überlegt, ob ich Cloud Atlas auf Deutsch oder Englisch anschauen soll. Tykwer ist Deutscher - er wird die Lokalisation sehr gründlich überwacht haben. Die deutsche Version ist nicht einfach nur "deutsch" - sie zollt dem Umstand Tribut, dass Sprache sich über fünfhundert Jahre hinweg wandelt. Wir erleben also in den sechs Zeitaltern unterschiedliche Sprachkonzepte, und besonders in den Zukunftsvisionen ist es hochspannend, wenngleich zunächst sehr fordernd, die Sprache zu erleben und zu verstehen. Das ist kein Film, den man mal eben nebenbei laufen lässt. Das funktioniert so nicht. Die Sprache ändert sich - und ebenso geschieht es mit den Figuren.

Ich denke, dass ein Absatz der Besetzung gewidmet werden sollte. Wer, so wie ich, ohne jegliche Vorabinformation an den Film geht, wird zunächst sehr positiv beeindruckt werden. Er wird viele bekannte Gesichter erkennen, Tom Hanks, Halle Berry, Hugh Grant, Susan Sarandon, Hugo Weaving, die Liste geht noch viel weiter. Und man wird alle Figuren in den sechs Epochen erleben. Das ist nicht nur eine Rolle for Frau Berry. Sie wird sechsfach ausgeschlachtet, sozusagen, und das erhöht den Filmgenuss ungemein. Der Stab wird je Ära neu augestattet, mit neuer Sprache versehen und darf wieder seine Schauspielkunst unter Beweis stellen. Das lässt uns auch an die Theorie denken, dass Geschichte sich immer wiederholt. Dass Ereignisse nur Variationen ihrer selbst sind - schon einmal dagewesen, nur anders.

Ich habe mich während des Films nicht ein einziges Mal gelangweilt - Hut ab, Herr Tykwer! Es wirkt wie ein Pasticchio aus bedeutungsvollen Szenen. Analoges Beispiel: Wir hören Popmusik. Die Strophen bauen etwas Atmosphäre auf, der Refrain ist dann das, worauf alle warten, der Ohrwurm, eingängig, alle singen mit. Die zweite Strophe folgt, das Publikum wird ruhig. Genaugenommen sind wir immer wieder nur scharf auf den Refrain. Wäre es nicht also ökonomisch, nur Refrains in einem Song zu haben? Cloud Atlas sieht sich als Mosaik aus "filmischen Refrains", es gibt nur Höhepunkte, das hält die Spannung aufrecht.

Ich könnte diese Besprechung noch lang weiterführen. Es gibt so unendlich viel in diesem Film zu entdecken, dass wiederholtes Ansehen reichlich belohnt wird. Das philosophische Grundkonzept haben wir schon bei Matrix und Lola Rennt erlebt, hier wird es eine Stufe prächtiger und umfangreicher verpackt. Ich weiß, dass ich - derzeit im Alter von zweiunddreißig Jahren - den Film wieder und wieder sehen werde. Und ich bin mir bewusst, dass ich den Film in fünf Jahren anders sehen, pardon - erleben werde als jetzt. Ich bin sehr froh, dass ich mir die Bluray zugelegt habe; diesen Film sollte man in höchstmöglicher Qualität genießen und sein ganzes Leben lang bei sich tragen. Wie eine Enzyklopädie, wie einen Atlas. Da hat man immer was von.

Da hätten wir sie also: Echte Filmkunst.

post scriptum: Jetzt, nachdem ich das geschrieben habe, habe ich mir die Internetmeinungen angeschaut und Roger Eberts Rezension gelesen. Ich liege gar nicht so falsch, ich scheine mich ihm anzuschließen, wenngleich der Film stark zu polarisieren scheint. Vermutlich fühlen sich die Zuschauer, die einen einfachen, kohärenten, klassischen Plot erwarten, abgeschreckt. Deren Pech. Welch Meisterwerk!

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