Donnerstag, 9. März 2017

Frau Reichelt

Das ist Frau Reichelt definitiv nicht, denn sie hört nie genervt zu, sondern authentisch interessiert.

Fallstudie Frau Reichelt. Den Namen habe ich - wie immer - selbstverständlich eventuell geändert. Diesmal aber wirklich! Vielleicht gibt es Frau Reichelt auch gar nicht. Vielleicht erzähle ich von mir - wen kümmert das schon. Und vielleicht liest Frau Reichelt, die vermutlich gar nicht so heißt, jetzt gerade diesen Artikel und erkennt sich mit einem leisen Lächeln wieder. Das weiß niemand... in der Twilight Zone.

Frau Reichelt ist faszinierend. Wobei, da geht das schon los: Wenn man weiß, woher das Wort faszinierend kommt, wenn man es vielleicht nicht vom lateinischen Verb fascinare, sondern vom lateinischen Substantiv fascinum ableitet (wobei das fascinum sicherlich eine Menge Menschen schon immer fascinabat), dann bekommt es einen recht anrüchigen Beigeschmack, Frau Reichelt faszinierend zu finden. Ja ja, schaut jetzt mal alle das Wort fascinum, -i n. nach! Herr Leinhos weiß natürlich, was fascinum bedeutet. Lady Mutterschiff auch. Und die Buba spült, oder auch nicht, sie ist krank. Nicht im Kopf.

...man merkt, ich bin dieser Tage voll von Gedanken und brauche meine kleine Insel hier im dritten Stock, wo ich ganz allein alles ordnen kann...

Frau Reichelts große Stärke ist das Zuhören. Wenn man sich zu ihr setzt, dann weiß man, dass man einen richtigen Gesprächspartner hat. Man kann mit ihr über alles reden und sie hat nicht nur ein offenes Ohr, sie ist nicht nur Gedankenabladeplatz, sondern sie hört wirklich hin. Sie zieht Informationen aus dem, was ihr Gesprächspartner sagt, und bastelt sich ein Portrait im Geist, damit sie weiß, mit wem sie da spricht.

Frau Reichelt nimmt ihren Gesprächstpartner erstmal ernst, und zwar immer. Nie gibt sie ihm das Gefühl "Jaja, red' du mal, ich glaub' dir kein Wort". Sie hört sich das alles an, sie nimmt das alles auf, und dadurch entsteht für den Gesprächspartner ein Gefühl von Offenheit. Dass man so sein darf, wie man ist, und dass man mit ihr über alle Probleme reden kann. Auch Probleme, wo mancher Mensch sagt "Ach komm, das geht uns doch allen so, lass Dich nicht so hängen" - nett gemeint, aber nicht zielführend - Frau Reichelt ist wie eine Psychologin: Sie hört zu, sie nimmt ernst.

Frau Reichelt nimmt sich Zeit. Sie müsste eigentlich etwas Anderes machen, sie muss eigentlich gleich in den Unterricht, aber den Moment nimmt sie sich noch, denn sie hat es erkannt: Unsere wertvollste Sache, die wir jemandem geben können, ist unsere Zeit, und Frau Reichelt wiegelt nie ab "Nein, jetzt nicht, ich möchte nicht mit Dir reden".

Das hat Konsequenzen - Frau Reichelt kommt mal zu spät in den Unterricht, oder oft, oder immer, und manche finden das echt ätzend. Denn als Lehrer hat man Pünktlichkeit vorzuleben, denken sie. Und am Ende der Stunde geht es in die große Pause, aber Frau Reichelt hat eigentlich keine Pause. Sie geht in dieses und jenes Gespräch. Sie hat keinen Leerlauf in ihrem Schulalltag - Zeit für sich selbst kann Frau Reichelt sich nur außerhalb des Schulgeländes und außerhalb der Arbeitszeit nehmen.

Dann fährt Frau Reichelt nach Tansania. Dann kommt sie mal raus, dann erweitert sie ihren Horizont. Sie will mehr von der Welt sehen, sie möchte niemals Scheuklappen an den Augen haben. Denn ihre Umsicht, ihre Weitsicht, all' das trägt dazu bei, dass man so gern mit Frau Reichelt spricht. Man redet wirklich gern mit ihr. Man bekommt Verständnis, Denkimpulse, neue Sichtweisen - und das trifft nicht nur auf die Lehrer zu.

Denn natürlich ist Frau Reichelt bei den Schülern auch beliebt. Die Schüler fühlen sich von ihr ernstgenommen, nicht bevormundet oder verhöhnt. Sie gibt ihren Schülern das Gefühl, auf Augenhöhe kommunizieren zu können - was daran liegt, dass sie tatsächlich nur auf Augenhöhe kommuniziert. Sie lässt sich von niemandem gängeln und schaut nie auf Andere herab. Viele Schüler sehen in Frau Reichelt eine Vertrauenslehrerin und nicht selten die einzige Person, die sie zu verstehen scheint. Sie vertrauen ihr alles an.

Mit ihrer wunderbaren Art hat Frau Reichelt Zugang zu den "schwierigsten" Schülern (ich nenne sie "spannend"). Leistungsverweigerer, Mobber, Rowdys: Frau Reichelt kriegt sie alle, was an ihrer Grundhaltung liegt, herrührend aus der Humanistischen Pädagogik: Jeder Mensch ist an sich gut. Nur mit dem Verhalten eckt er vielleicht an, aber Verhalten hat Gründe. Es gibt keine "bösen" Menschen. Es gibt keine "bösen" Schüler. Ich frage mich, ob Frau Reichelt Gestaltpädagogik kennt.

Jedenfalls habe ich großen Respekt vor Frau Reichelt, die mir ihr positives Menschenbild vorlebt, und ich versuche, mir daraus Denkimpulse mitzunehmen. Ich freue mich jedesmal, wenn ich Frau Reichelt von meinen Problemen erzählen kann, ich bin immer wieder gespannt auf ihre Sichtweise der Dinge. Ich finde, jede Schule sollte eine Frau Reichelt haben.

Dann stellt auch keiner mehr die Frage: "Was ist ein guter Lehrer?"

post scriptum: Wer weitere Menschen kennenlernen möchte, findet hier Hänschen und Kläuschen.

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