Samstag, 13. Mai 2017

Widersprüche

Wenn ich in den Spiegel blicke, merke ich, dass ich nicht so konsequent und eindeutig bin, wie ich das immer dachte...

Ich verstricke mich andauernd in Widersprüche. Mal ticke ich so, ein paar Tage, Wochen, Jahre später dann andersherum. Ich halte es mit einem Politiker, der einst meinte: "Was kümmert mich mein Geschwätz von damals?" Was zählt, ist das Hier und Jetzt. Daher ist es spannend, dass ich scheinbar nicht die gleichen Maßstäbe an andere Menschen anlege.

Fluch der Hochbegabung: Wenn mich eine Sache interessiert, merke ich mir die "unwichtigsten" Informationen sofort. Bei einmaligem Hören bzw. Ansehen. Detailgenau. Und ein Leben lang. Diese Informationen werden dem großen Puzzle in meinem Kopf hinzugefügt, das die Realität da draußen abbildet - und zwar die Wahrheit. Ein imaginäres Puzzle, das bis in das letzte Randstück korrekt ist und jede einzelne Nuance meines Lebens authentisch abbildet.

Es versteht sich von selbst, dass dieses Puzzle zu Lebzeiten nie fertiggestellt sein kann. Immer wieder kommen neue Teilmotive hinzu, immer wieder entdecke ich Ecken und Winkel, die sich vorher meiner Wahrnehmung entzogen haben. Das gibt meinem Leben einen Drive, eine Motivation, immer weiter zu gehen, mehr zu entdecken, und das Puzzle immer weiter zu vervollständigen. Es verhindert Leerlauf, es verhindert das Ennui, es ist für das Überleben absolut nötig.

Nun kommt Claudi mit ihrem Audi und sagt: "Aber woher weißt du denn, dass alle deine Puzzleteile immer der Wahrheit entsprechen? Was ist, wenn Menschen Dir etwas vorlügen? Was ist, wenn sie sich nicht authentisch verhalten?" Und ich versuche ihr zu erklären, dass ich das nicht weiß. Meine Grundhaltung ist, dass ich zuerst einmal jeden Menschen, jeden Anblick und jeden Eindruck als wahr rezipiere. Und jedes Puzzleteil so wie erlebt meinem Bild hinzuzufügen versuche. Auch wenn das vielleicht nicht der Wahrheit entsprochen haben mag, gelingt es mir eigentlich immer, das Teil erstmal irgendwo anzudocken und notfalls meine Realität direkt drumherum ein bisschen zu variieren.

Es gehört zu einer der großen Lehren in meinem Leben, dass ich wesentlich häufiger "falsche" Puzzleteile hinzufüge, als ich dachte. Irgendwann bricht der Glaube, dass alle Menschen einem die Wahrheit erzählen, dass man von allem, was man sieht und erlebt, sofort die der Wahrheit entsprechende Interpretation findet und abspeichert. Das gehört zum Erwachsenwerden dazu, und das ist eine Entwicklung, die wir als Pädagogen immer wieder begleiten dürfen.

Nun ist es so, wie oben beschrieben: Der Mensch ist ein in sich widersprüchliches Wesen. Von einer Phase auf die nächste ändert er seine Standpunkte, und darüber hinaus erzählt er oft nicht die Wahrheit, sondern was ihm am besten in sein eigenes "Bild" von sich selbst passt - auch wenn das mit der Realität oft nicht übereinstimmt.

Und hier ist wieder der Fluch der Hochbegabung: Mir fallen diese Widersprüche auf. Hochbegabte merken sich unter Umständen Alles. Sie gleichen daraufhin jegliches Verhalten ihrer Mitmenschen in einem Mordstempo mit allem Abgespeichertem ab und entdecken die Unstimmigkeiten. Ich weiß nicht, wie es anderen HBs geht, aber für mich fühlen sich diese Unstimmigkeiten sehr unangenehm an und ich mache mich daran, diese Widersprüche aufzuklären, um meiner eigenen Anforderung gerecht zu werden - dass nämlich das Bild in meinem Kopf immer der ganzen Wahrheit entspricht.

Ein Schritt auf diesem Weg ist es, dass ich meine Mitmenschen manchmal recht unverblümt mit ihren Fehlern konfrontiere. Ich weise sie auf ihre Widersprüche hin, natürlich ganz sachlich, ich halte ihnen ihre Fehler vor, im Wunsch, das alles zu verstehen und falsche Puzzleteile in meinem Kopf durch richtige auszutauschen.

Viele "normale" Menschen können aber mit diesem Verhalten nicht umgehen. Sie fühlen sich von mir angegriffen, als wollte ich ihnen etwas Böses, und sie wollen auch nicht einsehen, dass ihre Widersprüchlichkeit aufgeflogen ist. Sie wollen sich selbst nicht eingestehen, dass da irgendwas nicht stimmt.

Dieses Problem bemerke ich immer wieder, wenn ich in Kontakt mit Menschen trete. Und es trägt dazu bei, dass ich gern allein bin, denn ich möchte den Menschen nicht auf den Schlips treten, kann aber die Unstimmigkeiten nicht einfach ignorieren. Die große Buba hat das schon oft genug mitbekommen - dass ich irgendwas, was nicht passt, ganz direkt anspreche.

Dieser Stunden, dieser Tage bemerkt das auch mein Schulleiter, und ich gebe zu, ich habe ein bisschen Angst davor, wie er damit wohl umgehen wird. Auf der anderen Seite wird mir sein Verhalten ein guter Indikator dafür sein, ob ich an meiner jetzigen Schule bleiben sollte oder nicht.

Die Schulleitung meiner ersten Schule hat sich in massive Widersprüche verstrickt, darüber aber immer wieder den Mantel des "Sie sind nur Referendar, sie haben hier nichts zu sagen"-Mantel gedeckt. Das war verdammt unangenehm, aber es hat mir immerhin sehr klar gezeigt, dass ich dort nicht bleiben möchte. Und nein, es ist eben nicht an jeder Schule so, auch wenn es oft auftritt, dass Schulleitungen eigene Fehler nicht zugeben können. Muss die gleiche Seuche sein, die auch gewisse Politiker gern mal heimsucht, und auch Er kennt das.

Ich zitiere hier meine Studienleiterin in Englisch (damals im Ref) - denn sie kennt das Problem (aus guten Gründen): "Dr Hilarius, sie sind für eine Schule absolut notwendig. Sie werfen Sand in das Getriebe, und das muss so sein, damit man die Schule verbessern kann. Dadurch sind sie aber auch den Menschen, die die Schule "machen", verdammt unangenehm, und sie müssen lernen, damit umzugehen."

Und so scheint es ein Hochbegabten-Topos zu sein: "Sage ich ihm jetzt, dass er falsch liegt, oder nicht?" - denn ich würde ja gern die Situation verbessern, aber der Weg dahin führt durch unangenehme, traurige, wütende Phasen. Und ganz oft wird die Schuld für das eigene Fehlverhalten dann beim Hochbegabten gesucht, der es einfach ausgesprochen hat.

Und damit wären wir wieder bei dem alltäglichen Gesprächs-Seiltanz. Vielleicht erklärt das, warum ich überhaupt keine Probleme damit habe, allein zu sein: Ich muss nicht so viele Widersprüche aushalten, das ist ganz angenehm.

post scriptum: Mich würde mal interessieren, wie sich dieser Text liest. Ich finde das alles ganz logisch und nachvollziehbar und auch gut verständlich. Ist das so? Liebe Leser, bitte postet ein paar Attribute, die diesem Text zugemessen werden könnten, ich bin einfach neugierig.

Und: Ich habe diesen Beitrag in die Themenliste links aufgenommen, weil ich das mit der Wahrheit ganz spannend finde. Insofern passt es haargenau, dass ich dieser Tage die X-Files schaue, die sich intensiv dem Thema Wahrheit und Lüge widmen.

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