Montag, 5. Juni 2017

"Das geht uns doch allen so."

Genug gewabert, spart Euch die Höflichkeitsfloskeln...

Es ist mal wieder soweit. Mal wieder möchte ich mich jemandem erklären, erklären, dass ich - bedingt durch meine Andersartigkeit - manchmal Probleme habe, und in der grenzenlosen Mitgefühligkeit und Empathiewoge meiner Mitmenschen bekomme ich eine der nutzlosesten Antworten überhaupt.



"Ich bin leider sehr unflexibel, ich kann mich nicht einfach woandershin bewerben. Wenn ich mich an ein Umfeld gewöhnt habe, ist es für mich die absolute Katastrophe, wenn ich aus diesem Umfeld gerissen werde."

"Ach, das geht uns doch allen so! Ich mag Veränderungen auch nicht so gern. Ich bin manchmal auch ein bisschen stur und möchte nicht von meinem gemütlichen Platz runter. Keine Sorge, damit bist du nicht allein."

Na vielen Dank für das Mitgefühl, vielen Dank für den Versuch der Empathie, aber es ist leider nicht zielführend. Es tut mir leid, aber Du kannst nicht nachempfinden, wie es sich für mich anfühlt. Und nein, es geht Euch eben nicht allen so. Oder bekommt Ihr erstmal einen gepflegten Nervenzusammenbruch, nachdem Ihr aus Eurer gewohnten Umgebung genommen werdet? Sitzt tage- und wochenlang nur zuhause herum, versumpft, esst und trinkt kaum etwas, lest keine Post, beantwortet keine Mails, keine Telefonate, klappt zwischendurch zusammen, weil Euer Kreislauf im Eimer ist, bekommt Mahnungen wegen unbezahlter Rechnungen, sprecht an Eurer neuen Arbeitsstätte mit niemandem, lauft mit gesenktem Blick durch die Schule, damit Euch bloß keiner grüßt, seid froh, wenn Ihr möglichst schnell wieder aus der Schule zuhause seid, habt Angst davor, angesprochen zu werden, baut eine Mauer um Euch herum auf, die nicht gerade zu Eurer Integration ins Kollegium beiträgt, habt Angst vor jedem einzelnen Telefonklingeln, denn es könnten Eltern oder Kollegen oder die Schulleitung sein, die sich über Dein Verhalten beschwert, weil Du ja noch neu bist und die Anderen in der Schule noch nicht verstanden haben, dass Du ein bisschen anders tickst, und mit jeder unbezahlten Rechnung und jedem nicht korrigierten Test baut sich auf Deiner Seele ein zusätzlicher Brocken auf, der Dir das Gefühl gibt, nicht willkommen zu sein, und Du hörst bei jedem Gang durch die Schule, wie sich die Kollegen das Maul über Dich zerreißen, weil Du schwarz trägst, weil Du Deine Fingernägel lackierst, weil Du nicht mit jedem Menschen sprichst und nicht sofort versucht hast, Dich perfekt in das Kollegium zu integrieren? Und diese Scheiße erlebst Du mindestens ein Dreivierteljahr, bevor sich die Wogen endlich glätten und Du als Kollege akzeptiert wirst? Und das an jeder neuen Schule???



"Wenn ich irgendwas habe, was mich intensiv beschäftigt, dann vergesse ich darüber hinaus alles Andere, meine Wohnung ist das reinste Chaos."

"Ach, mach dir mal keine Gedanken, du müsstest mal meine Wohnung sehen, ich habe schon seit zwei Tagen den Müll nicht rausgebracht und Sonja steigt mir langsam aufs Dach, weil ich noch das Bad putzen muss."

Das Bad putzen, wie niedlich. Aber immerhin geht es Dir noch gut. Du hast keinen Schimmel, der sich in irgendwelchen Müllbergen ansammelt, die Du nicht mal mehr wahrnimmst, weil es um den Fixpunkt Deines Interesses herum nichts mehr gibt, Du merkst nicht am ersten Tag eines langen Feiertagswochenendes, dass Du nichts mehr zu essen in der Wohnung hast, kein Klopapier, keine saubere Wäsche, kein sauberes Besteck, und Du fischst Dir einen dreckigen Teller aus der Spülmaschine, die anzustellen nur eine Minute dauern würde, aber daran denkst Du einfach nicht, und dann schaust Du nach, wie lange das Brot da hinten schon abgelaufen ist, und so lange noch kein Schimmel drauf ist, kannst Du es ja wohl noch essen - und die Eier sind zwei Wochen drüber, egal, probier den Trick mit dem Wasserglas, vielleicht gehen sie ja noch, und auch die abgelaufene Wurst ist zwar ein wenig grau, aber so schlimm riecht sie noch nicht, und sonst bekommst Du halt ein paar Magenprobleme, das geht auch vorbei, und die nicht korrigierten Tests siehst Du schon gar nicht mehr, weil Du jegliche ankommende Post einfach drüberlegst, denn das sind alles nur gefühlte Randnotizen, während Du mit Deinen Gedanken in Deinem neuen Buch/Videospiel/Album/was auch immer bist und Überleben für Dich eigentlich sekundäre, Arbeit für die Schule höchstens tertiäre Bedeutung hat, und dass die Toilette verstopft ist, merkst Du so gut wie gar nicht, denn da Du nichts isst und trinkst, musst Du so gut wie nie aufs Klo und dann gibst Du Dich auch damit zufrieden, dass das Scheißteil fünf Stunden zum Ablaufen braucht, und auch die Sonnenschutzfolien, die Du längst vor dem Sommer an die Fenster hast bringen wollen, liegen noch herum, und Du schwitzt Dich lieber vom Rumsitzen halbtot - denn eigentlich geht es ja - als endlich einmal etwas zu erledigen, das nichts mit Deinem Gedankenfokus zu tun hat? Aber das scheinst Du ja zu kennen, offensichtlich besser als ich, der Hochbegabte, der augenscheinlich mit dreiunddreißig Jahren zum ersten Mal einem Menschen von seinen Problemen erzählt und die natürlich viel schlimmer aufbauscht, als sie eigentlich sind, und der nur darauf gewartet hat, zu hören, dass es ja auch den "Normalos" so geht.



"Ich bin offen und ehrlich und sachlich, manche Menschen können damit nicht umgehen, aus den unterschiedlichsten Gründen."

"Ja, aber da gehöre ich nicht dazu, ich finde es super, dass du offen und konfrontativ mit den Problemen umgehst."

Und deswegen dachte ich, Du hattest das ernst gemeint, als Du mir sagtest, wie toll es ist, dass ich den Schülern die zwei Seiten der HB-Medaille zu erklären versucht habe, als wir im Sitzkreis waren und ich ihnen ganz in Ruhe mit anschaulichen Beispielen von den Problemen erzählt habe, und habe festgestellt, dass ich diesen offenen Umgang mit den Schülern toll finde, anders als in den Schulen, für die das ein rotes Tuch ist, die erwarten, dass man so etwas nicht mit den Schülern bespricht, und ich habe Dich beim Wort genommen, weil ich ja nicht ahnen konnte, dass Du mich wieder nur trösten wolltest, nur beruhigen, und weil ich nicht damit gerechnet hatte, dass Du mir zwei Monate später ziemlich fassungslos Vorwürfe machst, wie ich mit den Schülern nur über das Thema sprechen könnte, und dass ich ihnen ja all' die negativen Dinge dieser Sache erzählt habe, dass ich das doch nicht einfach machen könne, das verstehen die doch gar nicht und es hat im Unterricht nichts zu suchen und ich solle die Schüler in Zukunft bitte nicht mehr so zutexten, und dann sitze ich wieder mit einem Fragezeichen im Gesicht vor Dir, weil es nur eines von mehreren Beispielen ist, die belegen, dass ich Dich nicht mehr ernst nehmen kann und dass es mit Deiner Offenheit, von der Du vom ersten Tag an gesprochen hast, wohl doch nicht so weit her ist, und Du wolltest einfach nur einen "Ich finde das richtig gut von dir"-Satz anbringen, weil wir gelernt haben, dass wir immer erstmal ein positives Feedback geben sollen, aber wenn es nicht ernst gemeint ist, dann ist es der größte Bullshit ever und ich möchte das nicht mehr haben, nicht mehr diese Verstellungen, diese Floskeleien, diese Höflichkeiten, und es wird sich nichts daran ändern, dass ich auch weiterhin offen und ehrlich zu meinen Mitmenschen bin, egal, wie angreifbar mich das macht und auch egal, ob die damit nicht umgehen können, denn das ist ihr Problem und ich habe sie zumindest vorgewarnt mit dieser Frage "Willst du das wirklich wissen"?



Das sind nur drei Beispiele, die dieses Problem beleuchten. Ich sage: "Ich bin hochbegabt, ich erlebe mein Leben in ein paar Punkten anders als Normalbegabte. Das führt manchmal auch leider zu Problemen." Mein Gegenüber sagt: "Ach ja? Kannst du da mal ein Beispiel nennen?" Und dann erzähle ich zum Beispiel eine der obigen Geschichten und werde mittels eines "Das geht uns doch allen so." wieder in die Gemeinschaft aufgenommen. So kann ich es leider nicht schaffen, ein Verständnis dafür zu erzeugen, dass ich eben doch anders bin.

Viele Menschen wollen mir dann einreden, dass es nicht so ist; vermutlich ist das so, weil sie der Auffassung sind, dass Hochbegabung etwas Tolles ist, und wollen nicht hinnehmen, dass ich Schattenseiten dieses Umstands nenne. Und dann fallen sie einige Zeit später völlig aus allen Wolken, wenn sie erleben, dass ich eben doch anders bin, und dann höre ich mir Sätze an wie "Warum hast du davon denn nichts gesagt?" oder "Ja, aber ich dachte, du übertreibst da und machst es schlimmer, als es eigentlich ist". Und ja, mir ist bewusst, dass viele Hochbegabte sich eben doch nicht als anders bezeichnen würden.

Leute, ich bin nur ehrlich zu Euch, und Ihr solltet Euch entscheiden, ob Ihr die Wahrheit hören wollt oder nicht, aber nicht mit white lies und Floskeln daherkommen und mich nachher dafür verantworten machen, dass Ihr die Welt nicht mehr versteht. "Das geht uns doch allen so", und ich schüttele bei diesem Satz mittlerweile nur noch milde lächelnd den Kopf.

Yeah, whatever...

post scriptum: Die Große Buba kennt das Problem in einer anderen Variation, die ich hier nur kurz nenne und nicht ausführe - weil ich es eben nicht nachempfinden kann:

"Ich bin Migränepatient." - "Oh ja, ich kenn' das, ich hab auch manchmal ganz schlimme Kopfschmerzen."

...no comment...

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