Samstag, 8. April 2017

Zahnprobleme, gestresste Ärzte und Fahrlässigkeit

So können die Zahnräder nicht ineinander greifen...

Der "Zahnprobleme"-Teil im Titel dieses Beitrags löst bei unterschiedlichen Lesern unterschiedliche Assoziationen aus. Vielleicht hat einer demnächst einen Zahnarzttermin und kann sich unter Zahnproblemen etwas vorstellen - und bekommt einen eiskalten Schauer, wenn er dann von gestressten Ärzten und Fahrlässigkeit liest - und sieht sich schon auf dem Zahnarztstuhl ermordet. Dr Feinstone lässt grüßen. Die Sannitanic wird bald mit Zahnproblemen zu kämpfen haben - wenn beim Kind die ersten Zähnchen kommen, ein Unterhaltungsprogramm für die ganze Familie. Zum Glück muss ich bei ihr keine Fahrlässigkeit vermuten. Eine weitere Form von Zahnproblemen findet sich in der Verzahnung - zum Beispiel in mangelhafter Verzahnung verschiedener Arztpraxen. Dass zum Beispiel die eine nicht weiß, was die andere tut. Ich habe mich nach meiner OP mit einem Bekannten aus der Suchtprävention unterhalten, der da eine nette Geschichte erzählen konnte, die mir selbst nicht komplett unbekannt vorkam; ich habe mich an meine eigene OP erinnert, dazu aber am Schluss mehr.

Auch bei ihm ging es um eine Operation an der Hand, allerdings am Handknöchel. Dennoch waren auch dort zwei Praxen involviert, die Chirurgie und die Anästhesiologie. Auch jener Eingriff hat nicht unter Vollnarkose, sondern unter örtlicher Betäubung stattgefunden. Wer das alles schon einmal mitgemacht hat, weiß, dass man in jeder Praxis gesondert einen Patienten-Aufnahme-Bogen (Leichte Sprache!) a.k.a. Anamneseblatt ausfüllen muss. Man trägt Körperdaten ein, Allergien, sonstige Medikamente und so weiter. So, ich nenne den Bekannten jetzt mal Klops.

Klops hat also zunächst in der Chirurgie alle Daten eingetragen - und hat seinen operierenden Arzt darüber aufgeklärt, dass bei ihm eine Opioidabhängigkeit vorliegt. Das sollte man definitiv vorher klären, um den Einsatz von Schmerz- und Beruhigungsmitteln während und nach der OP besser zu koordinieren. Klops ist allerdings nicht von einem zugelassenen Medikament abhängig, sondern von einem eher unbekannten pflanzlichen Opioid. Ich nenne es mal Kraut. Der Arzt hat von Kraut noch nie etwas gehört, daher erklärt Klops ihm geduldig, worum es sich dabei handelt, und er erwähnt auch seine Angst - Angst davor, dass wegen seiner Toleranz durch Kraut (Gewöhnung an die schmerzstillenden Effekte) die vom Arzt verordneten Schmerzmittel nicht stark genug wirken werden.

Zum Glück hatte Klops einen sehr aufgeschlossenen Arzt, der ihn ernstgenommen und verschiedene Möglichkeiten der Analgesie nach der OP aufgezeigt hat. In Klops' Fall würde man danach starke Opioide mitgeben, die fallen in Deutschland zwar unter das Betäubungsmittelgesetz und dürfen nur mit spezieller Zulassung des Arztes verabreicht/mitgegeben werden, aber das kann man ja rechtzeitig organisieren. Klops brauche sich keine Sorgen zu machen, sein Arzt werde sich dafür einsetzen. Das hat Klops enorm beruhigt.

Eine Woche vor dem Operationstermin sollte Klops sich dann in der Anästhesiologie vorstellen - bei den Ärzten, die für die örtliche Betäubung während der Operation zuständig sind, damit er seine zu operierende Hand auch wirklich nicht mehr spürt. Neue Praxis, neuer Anamnesebogen. Klops füllt wieder alle Fragen aus - unter Anderem auch die Frage nach Allergien, die er mit "Lieschgras" beantwortet; er erledigt alle Fragen mit einer Ausnahme: "Liegt bei ihnen eine Medikamentenabhängigkeit vor?" - er lässt das Feld frei und erklärt dem neuen Arzt, dass er in seiner Freizeit kein Medikament, aber ein pflanzliches Opioid konsumiere, und wie er das eintragen solle. Arzt: "Ach so, hmmm. Ja, weiß ich jetzt auch nicht, wie heißt das denn?" Klops: "Kraut." Arzt: "Davon habe ich ja noch nie gehört. Weiß nicht, was das sein soll. K-R-A-U-T? Ja okay, ich schreibe das mal hier hin. Gut, dann sehen wir uns nächste Woche zur OP!"

Klops verlässt die Praxis ein wenig verwirrt. Keine weiteren Nachfragen. Nichts zum Konsummuster, nichts zur Toleranzschwelle. Wann er konsumiert? Wieviel er konsumiert? Nichts. Wie soll denn dann jemand wissen, wieviel Wirkstoff ihm nach der OP zur Schmerzstillung mitgegeben werden muss? Und ob das zu Wechselwirkungen mit Beruhigungsmitteln während der OP kommen kann? Schließlich ist Kraut trotz freier Verfügbarkeit ein ziemlich starkes Opioid, einer der Wirkstoffe darin ist in etwa fünfzehnfach stärker als Morphin. Naja, die Ärzte werden schon wissen, was sie tun, und der Chirurg hat ja auch gesagt, dass er sich darum kümmert. Klops geht nach Haus und bereitet sich auf die OP vor. Und an dieser Stelle fällt mir auf, dass ich Klops noch einmal fragen muss, wie der genaue Ablauf in der Klinik war, also lege ich diesen Beitrag zur Seite und schreibe ihm nochmal.

So, zwei Tage später, jetzt bin ich klüger und kann weiterschreiben. Also, Klops wurde am OP-Tag direkt in den Warteraum der Anästhesiologie gebracht. Dort hat ein Helfer kurz die Daten vom Anamnesebogen abgeklärt: Name, Geburtsdatum, Allergie gegen Lieschgras. Okay, alles in Ordnung! Kein Kommentar zum Kraut-Eintrag, scheint nicht so wichtig zu sein. Klops soll sich entkleiden, die OP-Garderobe anlegen und aufs Bett, unter die Decke. Macht er dann auch und wird eine Weile später in den Vorbereitungsraum neben dem OP geschoben. Seine Arme werden auf seitliche Stützen gelegt; an die linke Hand bekommt er einen Tropf, in den rechten Oberarm bekommt er eine Betäubungsspritze (oder mehrere, bei mir waren es vier und links und rechts vertauscht). Der Anästhesist fuhrwerkt noch ein wenig am Venenzugang herum und wendet sich an Klops: "Es kann sein, dass sie ein bisschen duselig werden, ich habe ihnen ein Beruhigungsmittel gegeben, dann werden sie ganz entspannt." Klops: "Oh, welche Substanz denn?" Arzt: "Ein Benzodiazepin." Klops: "Ja, ich meine, welche Substanz denn genau?" Arzt: "Ein Benzodiazepin, die nennt man so, das sind Beruhigungsmittel." Klops: "Ich weiß, meine Frage ist, welches Benzo sie genommen haben - welches Präparat?" Arzt grübelt: "Ach so, das weiß ich gerade nicht genau, Dormicum, glaube ich."

Hier muss ich mal einschreiten. Ein Anästhesist sollte jederzeit wissen, welche Medikamente er in welcher Dosis verabreicht. In diesem Fall 7,5mg Midazolam, ein kurzwirksames Hypnotikum, das gern vor Operationen zur Beruhigung verabreicht wird - also eigentlich nichts Ungewöhnliches. Wo mir aber der Mund offen geblieben ist: Wie kann es sein, dass, ohne Vorankündigung, einem opioidabhängigen Patienten ein Benzodiazepin verabreicht wird, ohne zu klären, wann er zuletzt wieviel konsumiert hat? Wie kann es sein, dass das vollkommen übergangen wird, nur, weil Kraut so unbekannt ist? 
Hier wurde grob fahrlässig gehandelt: Benzodiazepine und Opioide setzen jeweils die Atmung des Patienten herab ("Atemdepression") - daher stirbt man z.B. an einer Überdosis Heroin letztlich durch Ersticken. Daher ist es absolut kontraindiziert, beide Substanzen in Kombination zu konsumieren; das russische Roulette wird nur noch durch gleichzeitigen Konsum von Alkohol gefährlicher. Der Anästhesist konnte unmöglich wissen, wieviel Wirkstoff von Kraut noch in Klops' Körper vorhanden war. Die Gabe des Midazolam hätte vorher durch Rücksprache mit dem Patienten abgesichert werden müssen - man hat hier ein Aussetzen der Atmung riskiert. Sicher, das wäre sofort bemerkt worden. Sicher, man hätte direkt Flumazenil als "Gegengift" verabreicht. Aber es geht hier um's Prinzip, und leider komplettiert es ein recht schlampiges Bild der dortigen Anästhesiologie.

Klops denkt sich in dem Moment nicht so viel dabei, schließlich konsumiert er selbst ab und an auch Benzos. Darüber hinaus verläuft die Operation ohne Zwischenfälle und er wird währenddessen gut von allen Beteiligten versorgt. Danach wird er in den Aufwachraum gebracht, bekommt Brötchen und Kaffee und die Schmerzmedikation für zuhause wird vorbereitet. "Also, Herr Klops, wir geben ihnen Ibuprofen, Novaminsulfon (Novalgin) und Tilidin mit, ich schreibe ihnen..." Klops: "Ähm, moment, auf das Novaminsulfon würde ich gern wegen des Agranulozytoserisikos verzichten, das ist mir zu heikel, und das Tilidin wird bei mir nicht so viel bringen, ich hatte mit der Chirurgie abgesprochen, dass sie mir Hydromorphon mitgeben." Helfer: "Wie kommen sie denn drauf, dass das Tilidin bei ihnen nichts bringt?" Klops: "Ich bin opioidabhängig und konsumiere täglich in etwa 50mg Morphinäquivalent." Helfer: "Sie sind opioidabhängig? Haben sie das nicht angegeben?"

Wow, ich glaube, an dieser Stelle wäre mir der Kragen geplatzt. Aber Klops bleibt ruhig.

"Doch, auf dem Anamneseblatt sehen sie, dass ich täglich Kraut konsumiere. Und ich brauche ein Opioid ohne Antagonisten, das Tilidin wird wegen der Naloxonbeimengung nichts bringen." Helfer: "Aber das betrifft doch nur die intravenöse Gabe." Klops: "Ab einer gewissen Dosis, um und bei 24mg Naloxon, kann nicht mehr alles durch den First-Pass-Effekt in der Leber abgebaut werden. Und da ich eine höhere Dosis brauche, wird das nicht funktionieren, das hatte ich extra mit dem Chirurgen vorher besprochen." Helfer: "Ja, aber wir können ihnen jetzt nicht einfach Betäubungsmittel mitgeben, wir haben dazu gar keine Berechtigung. Silke, ruf mal durch und frag, ob der Schmerztherapeut noch da ist." Und dann: "Also, hier ist keiner mehr. Und wir können bei ambulanter Behandlung nicht so ohne Weiteres Btm-Substanzen herausgeben." Klops: "Das ist ärgerlich. Aber Dr Chirurg und ich haben geahnt, dass es so kommt." Chefarzt kommt vorbei, hört sich die Situation an. Chef: "Hm, das tut mir leid, wir können da nicht viel machen. Haben sie denn noch etwas von dem Kraut zuhause? Dann nehmen sie einfach das, und wenn sie trotzdem Probleme haben, rufen sie direkt bei der Notaufnahme an." Helfer: "Also, ich gebe ihnen jetzt Ibuprofen und Paracetamol mit, tut mir leid, mehr geht nicht."

Ich habe Klops gefragt, was genau ihn gestört hat, denn er hatte ja wirklich noch Kraut da und konnte somit Selbstmedikation vornehmen. Klops ist nicht damit klargekommen, dass man ihn in der gesamten Anästhesie nicht ernst genommen hat. Überall wurde Kraut bei Dauerkonsum eingetragen, niemand hat nachgefragt. Trotzdem hat man ihm das Benzodiazepin i.v. verabreicht, trotzdem hat es dann mit den Schmerzmitteln für zuhause nicht geklappt. Beim Verbandswechsel, diesmal wieder in der Chirurgie, hat Klops dann von seinen Erfahrungen erzählt. Der Chirurg schaute etwas bedröppelt auf den Boden und räumte ein, dass es in der Klinik schon häufiger Probleme mit der Verzahnung der beteiligten Praxen gab.

Und damit wären wir also wieder beim Titel des Beitrags gelandet. Klops erzählt, dass die Ärzte wirklich sehr freundlich waren und dass die Operation gut verlaufen ist, er hatte keine Angst und es hat währenddessen auch nichts wehgetan. Aber hin und wieder sieht er noch diesen Tropf links von sich und den Arzt: "Ich habe ihnen ein Beruhigungsmittel gegeben." Ärgerlich. Und dann liest Klops Online-Bewertungen der Klinik und liest, dass er kein Einzelfall ist. Dass die Klinik wegen Fahrlässigkeit bereits einmal erfolgreich auf ein Schmerzensgeld verklagt worden war.

Aber seiner Hand geht es jetzt wieder gut, der Gips ist runter und er kann alles wieder schmerzfrei bewegen. Und das Problem mangelhafter Verzahnung ist in der Klinik bekannt - mehr kann er da nicht tun und legt den Fall ad acta.

Und warum kam mir der Fall bekannt vor? Weil es auch um die Hand ging, wenngleich um die andere, und weil mein Arzt mir erzählt hat, dass es in seiner Klinik auch ein Kommunikationsproblem gibt. Ich hatte im Drogenforum davon berichtet und Klops hat mir daraufhin seine Story erzählt.

post scriptum: Isn't it stylish?

 

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